Herr Bundeskanzler Friedrich Merz,
Herr Vizekanzler Lars Klingbeil,
Frau Entwicklungsministerin Reem Alabali-Radovan,
Frau Forschungsministerin Dorothee Bär,
Herr Innenminister Alexander Dobrindt,
Herr Verteidigungsminister Boris Pistorius,
Frau Bildungsministerin Karin Prien,
Frau Wirtschaftsministerin Katharina Reiche,
Herr Außenminister Johann Wadephul,
als Wissenschaftler:innen, Forschende und Lehrende verschiedenster Fachrichtungen,
wenden wir uns mit größter Entschiedenheit an Sie: Seit 20 Monaten unterstützt Deutschland
(politisch, finanziell und militärisch) eines der größten Verbrechen unserer Zeit – die
Vernichtung und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung und die Zerstörung jeglicher
Lebensgrundlagen in Gaza und zunehmend in der West Bank. Seit 20 Monaten verfolgen wir
täglich diesen horrenden Völkermord „live“ mit, während die deutsche Politik davon losgelöst
diskutiert und agiert. Solange Sie als die neu amtierende Bundesregierung diese Realität nicht
endlich anerkennen und entsprechend Maßnahmen ergreifen, tragen Sie, tragen wir alle,
weiter Mitschuld an diesem Verbrechen. Ihr aktuelles Handeln, ebenso wie das der vorherigen
Bundesregierung, ist völkerrechtswidrig und politisch hochgefährlich: Deutschland untergräbt
damit aktiv jenes internationale Rechtssystem, das nach dem Zweiten Weltkrieg auch als
Reaktion auf deutsche Verbrechen geschaffen wurde.
Es ist unbestreitbar, dass Israel mit ungehemmter Gewalt in Gaza vorgeht. Seit dem Ende der
formalen Waffenruhe im März hat die Armee die Bombardierungen, Erschießungen und
Vertreibungen intensiviert. Offiziell liegt die Zahl der Todesopfer bei 55.637.
Expert:innen gehen jedoch von mindestens 250.000 direkten und indirekten Opfern aus
(mehr als 10% der Bevölkerung Gazas), unter anderem aufgrund der systematischen
Zerstörung des Gesundheitssystems und anderer ziviler Infrastruktur wie die
Trinkwasserversorgung, der gezielten Einschränkung von Nahrung, Wasser, Medikamenten
und Hygieneartikeln und der Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Israel zerstörte zudem
weite Teile der Landwirtschaft und blockiert den Zugang zum Meer. Laut dem
letzten Integrated Food Security Phase Classification (IPC)-Bericht leidet fast die gesamte
Bevölkerung als direkte Folge der gezielten Aushungerungspolitik unter akuter
Ernährungsunsicherheit.
Deutschland muss endlich das falsche Narrativ aufgeben, Israels Vorgehen in Gaza sei legitime
Selbstverteidigung oder lediglich eine aus dem Ruder gelaufene Reaktion. Tatsächlich handelt
es sich um die radikale Verwirklichung eines historischen Traums vieler Zionisten: die
Umsiedlung und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung – bis hin zu ihrer möglichen
Vernichtung. Und das nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordanland, einschließlich
Ostjerusalems, sowie in Teilen Syriens und des Libanons. Dieses Vorgehen beruht auf
Verstößen gegen das Völkerrecht im Rahmen einer jahrzehntelangen Besatzungs- und
Annexionspolitik, vor der Deutschland beharrlich die Augen verschließt. Indem Sie, Herr
Bundeskanzler, nun auch noch den Angriffskrieg Israels auf den Iran mit dem
Selbstverteidigungs-Narrativ zu legitimieren versuchen und Israel als Vollstrecker westlicher
Interessen darstellen, scheinen Sie sich endgültig von der UN-Charta verabschieden zu wollen.
Wir möchten Sie daher daran erinnern, dass Deutschland als Vertragsstaat der Vereinten
Nationen, der UN-Völkermordkonvention und des Römischen Statuts rechtlich und politisch
dazu verpflichtet ist, das Völkerrecht zu schützen, Völkerrechtsverbrechen zu verhindern und
– soweit sie individuell zurechenbar sind – die strafrechtliche Verfolgung von
Völkerrechtsverbrechen aktiv zu unterstützen. Der Internationale Gerichtshof hat im Fall
Bosnien und Herzegowina vs. Serbien und Montenegro (Art. 430f) klargestellt: Alle Staaten,
besonders einflussreiche, sind verpflichtet, Völkermord zu verhindern. Mit der aktiven
Ignoranz gegenüber dieser Verpflichtung verletzen Sie als verantwortliche Exekutive nicht nur
internationales Recht, sondern auch die deutsche Verfassung. Dies bekräftigten bereits im
April 2024 rund 600 Beamt:innen verschiedener Bundesministerien in einem offenen Brief:
„Israel begeht in Gaza Verbrechen, die in klarem Widerspruch zum Völkerrecht und damit zur
deutschen Verfassung stehen, an die wir als Bundesbeamte und Angestellte im öffentlichen
Dienst gebunden sind.“
Schon im Oktober 2023 machten über 800 Expert:innen aus den Bereichen Völkerrecht sowie
Konflikt- und Völkermordforschung auf die Gefahr eines drohenden Genozids aufmerksam.
Israels Offensive in Gaza wurde von Anfang an von genozidalen Äußerungen führender
israelischer Politiker begleitet (vgl. Südafrikas Dossier). Israel setzte direkt zu Beginn Hunger
als Kriegswaffe ein, und die israelische Armee warf allein in den ersten sechs Tagen
laut eigenen Angaben 6.000 Bomben in Gaza ab, die mehr als 1.400 Menschen töteten. Im
November 2023 forderten UN-Expert:innen Schutzmaßnahmen, um einen Völkermord zu
verhindern, und bereits im Dezember 2023 stufte das Lemkin Institute for Genocide
Prevention das Vorgehen Israels als Genozid ein. Kurz darauf, im Januar 2024, entschied der
IGH im Fall Südafrika vs. Israel, dass das Risiko eines unmittelbar bevorstehenden Völkermords
besteht. Er ordnete präventive Maßnahmen im Januar, März und Mai 2024 an, die Israel
allesamt ignorierte. Hinzu kommen die internationalen Haftbefehle gegen Benjamin
Netanjahu und Yoav Gallant wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, die Ihre Regierung zu ignorieren sogar offen angekündigt hat. Ebenso liegen
zahlreiche Berichte der UN und von verschiedenen, einschließlich palästinensischen und
israelischen, Menschenrechtsgruppen sowie von humanitären Organisationen vor; sie alle
dokumentieren zahlreiche israelische Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit. Unter allen namhaften Holocaust- und Genozidforschern ist mittlerweile
unstrittig: Israel begeht einen Völkermord in Gaza.
UN-Expert:innen folgend fordern wir Sie daher auf, umgehend und konsequent massiven
politischen und wirtschaftlichen Druck auf Israel auszuüben, um den Völkermord an den
Palästinenser:innen zu stoppen und die illegale Besatzung zu beenden. Hierzu zählt, die im
September 2024 empfohlenen Maßnahmen umzusetzen, darunter:
der Aussetzung aller Waffenabkommen, -importe, -exporte und -transfers, auch von
Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, die gegen die palästinensische
Bevölkerung unter Besatzung eingesetzt werden könnten.
Beziehungen zu Israel.
Selbstbestimmung im besetzten palästinensischen Gebiet zu garantieren –
einschließlich der vollen Anerkennung des Staates Palästina.
Handelsabkommen und akademischen Beziehungen zu Israel, die seine illegale
Besatzung und das Apartheidregime unterstützen.
juristischen Aufarbeitung von Völkerrechtsverbrechen.
Angesichts der weiter eskalierenden genozidalen Gewalt Israels in Gaza und in der West
Bank, fordern wir Sie darüber hinaus nachdrücklich dazu auf, umgehend weitergehende
Maßnahmen zu ergreifen. Dazu zählen:
Deutschland muss sich auf internationaler Ebene aktiv für den Schutz der
Zivilbevölkerung in Gaza und in der West Bank einsetzen. Dazu gehört die ernsthafte
Prüfung militärischer Schutzmaßnahmen wie die Einrichtung von Schutz- und
Flugverbotszonen sowie die Entsendung von UN-Friedensmissionen, um weitere
Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern, die Lieferung von Hilfsgütern zu
sichern und die palästinensische Bevölkerung vor Vertreibung und Vernichtung zu
bewahren.
Als Vertragsstaat der Genfer Flüchtlingskonvention und der UN-
Völkermordkonvention trägt Deutschland eine besondere Verantwortung,
gefährdeten Geflüchteten aus Gaza Schutz zu bieten. Besonders schutzbedürftige
Gruppen wie Schwerverletzte, Kranke, Kinder, Schwangere, Alte und Traumatisierte
sollten im Rahmen international koordinierter humanitärer Maßnahmen unterstützt,
evakuiert und aufgenommen werden. Hierzu gehören auch die Schaffung
humanitärer Korridore und medizinische Evakuierungen in Zusammenarbeit mit
internationalen Partnern.
Außerdem – die Beendigung der repressiven Hochschulpolitik und Wiederherstellung von
Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit:
Wir fordern ein sofortiges Ende der Einschränkungen von Wissenschafts- und
Meinungsfreiheit in Deutschland. Aktuell werden kritische Stimmen zu Israels
Vorgehen und seiner Besatzung unter dem Einsatz wissenschaftlich fragwürdiger
Antisemitismus-Definitionen diffamiert, Veranstaltungen abgesagt und Proteste –
auch Studierendenproteste an Hochschulen – kriminalisiert. Dies beklagte kürzlich
auch der Menschenrechtskommissar des Europarats, Michael O’Flaherty, in einem
Brief an Innenminister Alexander Dobrindt. Eine offene, verfassungsgemäße Debatte
muss wieder möglich sein – gerade in der Wissenschaft. Die systematische
Repression und Marginalisierung von kritischen und solidarischen Stimmen trägt zur
deutschen Mitschuld an bereits begangenen und laufenden israelischen
Völkerrechtsverbrechen bei und muss enden.
Datum: 21.06.2025
Wir stehen für ein Gespräch zur Verfügung. Bitte wenden Sie sich per E-Mail an Prof. Christine
Binzel (christine.binzel@fau.de), Prof. Hanna Kienzler (hanna.kienzler@kcl.ac.uk) oder Dr.
Britta Ohm (briohm@uni-mainz.de).
Unterzeichner:innen
https://drive.google.com/file/d/1sVzBcr6EKIr0JXX2CvX_jT9Yac2Jvnus/view
https://drive.google.com/file/d/1SdP4EkSzZuFYyzLbiYgmWcDjjU0PaxCM/view